Jan Schierhorn hat mal beruflich „Ideen“ gemacht, war in der Werbung tätig. Doch eine seiner besten Ideen hatte er nicht im Meetingraum beim Brainstorming, sondern – ganz im Stile des großen Isaac Newton – im heimischen Garten, unter einem Apfelbaum. Denn obwohl es sich bei besagtem Baum nur um einen Halbstamm handelte, wusste Jan Schierhorn schon gar nicht mehr, wohin mit den ganzen Äpfeln. Und nachdem er sich bei ein paar Nachbarn und Kleingärtnern umgehört hatte wusste er auch, dass er mit diesem Problem nicht alleine ist. Das war die Geburtsstunde der Idee für „Das Geld hängt an den Bäumen“ – einem sozialen Projekt, in dem unter anderem Saft aus nicht genutztem Obst hergestellt wird.

Freitagmittag, Hamburg Altona. In der Nähe des Bahnhofs, direkt an der Großbaustelle zur „Neuen Mitte Altona“ stehe ich vor einem alten Lagergebäude aus Klinker. Ich laufe die Laderampe entlang und komme bei einem Tontechnik-Verleih und einer Schreinerei vorbei, bevor ich vor einer unscheinbaren Bürotüre stehe. Auf ihr ist die Silhouette eines Apfelbaums abgebildet. Hier bin ich wohl richtig – bei „Das Geld hängt an den Bäumen“. Ich bin dort mit Jan Schierhorn, dem Gründer der Initiative zum Gespräch verabredet. Und in den kommenden 90 Minuten werde ich erfahren, was sich hinter dem zugegebenermaßen etwas sperrigen Namen verbirgt. Spoiler: Viel mehr als einfach nur Apfelsaft.

Das Geld hängt an den Bäumen wurde 2010 als gemeinnützige GmbH gegründet. Wie eingangs schon beschrieben, besteht die Grundidee darin, Obst, welches ansonsten nicht verwertet wird, zu Saft zu verarbeiten. Dabei stützt sich das Projekt vor allem auf Baumspenden – also Privatpersonen, die nicht wissen wohin mit dem ganzen Obst, das ihre Bäume Jahr für Jahr produzieren. Oder auch auf städtische Streuobstwiesen, die von der Stadt Hamburg als Ausgleich zur Grünflächenversiegelung angelegt, aber nicht weiter bewirtschaftet werden. Inzwischen hat die Initiative auch angefangen, eigene Streuobstwiesen anzulegen. Zu guter Letzt spenden auch Bauern, die mit der Bewirtschaftung ihrer Streuobstwiesen aufgehört haben, weil die Bäume zu alt geworden sind und nicht mehr die großen Erträge bringen, ihre Ernten an die Initiative – zum Selbstpflücken, versteht sich. Erst kürzlich, nachdem im Hamburger Abendblatt über Das Geld hängt an den Bäumen berichtet wurde, gab es die wohl größte Spende dieser Art: Eine Bauersfrau, deren Mann Anfang des Jahres verstorben ist, meldete sich nach dem Artikel bei Jan Schierhorn und bot ihm an, die Streuobstwiesen in den nächsten 2 Jahren kostenlos abernten zu dürfen. Um wie viele Bäume es sich dabei handelt? Rund 1.000. Eine Menge Äpfel.

„Die Schildchen an den Bäumen mit der Sortenbezeichnung lesen sich manchmal fast wie kleine Gedichte: Finkenwerder Herbstprinz klingt doch auch gleich viel schöner als Boskop oder Jonagold!“

Und diese müssen verarbeitet werden. Die Mischung aus Privatgärten, eigenen Wiesen und Baumspenden von Landwirten ermöglicht dem Projekt, in Zusammenarbeit mit einer Slow Food-Mosterei im Alten Land inzwischen jährlich rund 100.000 kleine (0,2l) und 50.000 große Flaschen (0,7l) abzufüllen. Dazu kommen dann noch die neu entwickelten Schorlen in den Geschmacksrichtungen Apfel, Apfel-Rhabarber und Apfel-Johannisbeere. Aber es geht dabei nicht nur um die Menge. „Uns geht es vor allem auch darum, eine geschmackliche Vielfalt und alte Sorten zu erhalten“, so Jan Schierhorn. „Die Schildchen an den Bäumen mit der Sortenbezeichnung lesen sich manchmal fast wie kleine Gedichte: Finkenwerder Herbstprinz klingt doch auch gleich viel schöner als Boskop oder Jonagold“! Aber die Säfte aus diesen Sorten sind nicht nur geschmacklich eine Klasse für sich. Laut Jan Schierhorn sind sie teilweise sogar für Menschen mit Apfel-Allergien geeignet. Ein Umstand, der sich mit einem Blick auf den Welthandel erklären lässt: Weltweit gibt es rund 8.000 Apfelsorten und Varietäten, wirklich relevant für den Handel sind aber nur rund 15 Sorten, weil diese besonders ertragreich und haltbar sind. Hat man eine Unverträglichkeit für eine dieser Sorten, hat man oft Pech gehabt. Die alten, robusten Sorten sind meist bekömmlicher, weil sie nicht so überzüchtet sind.

Lokal, aber auch sozial und nachhaltig

Die Säfte von Das Geld hängt an den Bäumen sind aber nicht nur regional, sondern auch sozial und nachhaltig hergestellt. Und das ist hier nicht nur eine Worthülse. Neben dem schonenden Umgang mit unseren Ressourcen soll auch eine Perspektive für Menschen geschaffen werden, die im normalen Arbeitsmarkt wenig Chancen haben. Denn bei einem Großteil der Belegschaft handelt es sich um Menschen mit einer Behinderung, die unter gärtnermeisterlicher Betreuung die Äpfel ernten und auch die Logistik im Lager in Altona abwickeln. Und das, obwohl Jan Schierhorn gar nicht an die vollständige Inklusion behinderter Menschen in unsere Gesellschaft glaubt. Aber er glaubt an Integration. Und Wertschätzung für alle. Das ist auch der Grund, warum drei seiner Mitarbeiter auf den Etiketten der neuen Schorlen mit Foto und Namen abgebildet sind. Damit soll Sichtbarkeit in der Gesellschaft geschaffen werden. Und Wertschätzung für seine Mitarbeiter zum Ausdruck gebracht werden. Um dies zu unterstreichen, erzählt Jan Schierhorn mir eine kleine Anekdote: Nach dem Artikel über die neuen Schorlen und die Mitarbeiter im Abendblatt war Olaf (vom Apfel-Rhabarber-Etikett) mit einem Kollegen zusammen bei der Auslieferung im Google-Büro am Hamburger Gänsemarkt. Einer der Google-Manager erkannte Olaf, ging schnurstracks in sein Büro, kam mit der Abendblatt-Ausgabe zurück, schlägt den Artikel auf und bittet Olaf um ein Autogramm. Für Olaf eine wunderbares Erlebnis. Und von solchen kleinen Gesten wünscht sich Jan Schierhorn mehr im Alltag. Deshalb auch die Entscheidung, die Mitarbeiter mit Namen und Foto auf die Etiketten zu nehmen.

Neben der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung arbeitet Das Geld hängt an den Bäumen außerdem mit dem sozialen Dienstleistungsunternehmen „Fördern & Wohnen“ zusammen. Im Gut Sachsenwaldau, einer Einrichtung für Suchtkranke, wird beispielsweise der Rhabarber für die Säfte angebaut. Die Patienten bekommen dort unter gärtnerischer Anleitung jeweils einen Teil des Rhabarberfeldes übertragen und sind für diesen verantwortlich. Der Rhabarber, der dadurch entsteht, ist aber eigentlich nur ein Nebenprodukt. Denn die Verantwortung und die Wertschätzung, welche die Patienten durch den Anbau erhalten, führt nicht selten auch zu Therapieerfolgen. Es kommt zum Austausch über Anbau- und Pflegemethoden und auch in Therapiegesprächen öffnen sich die Patienten dadurch zunehmend.

Eine Erfolgsstory auf voller Linie

„Der Kunde muss für ein gutes Produkt auch einen angemessenen Preis zahlen, sonst funktioniert das nicht. Daher verhandeln wir auch nicht!“

Bis alles soweit war, hat es natürlich etwas gedauert. Angefangen hat es eigentlich ganz klein. Der Plan für das erste Jahr sah vor, 500 Flaschen abzufüllen und mal zu schauen, wie alles so anläuft. Durch die vielen Baumspenden kamen aber direkt schon über 9.000 Flaschen zusammen, bevor man etwas auf die Bremse getreten ist. Die Äpfel müssen ja nicht nur geerntet und verarbeitet werden. Der Saft muss auch irgendwie verkauft werden. Aber das stellte sich letztendlich als kleineres Problem heraus. Weil die Produkte und die Idee von den Kunden für gut befunden wurden und viel über Mundpropaganda weitergetragen wurde, musste in den ersten Jahren überhaupt keine aktive Vertriebsarbeit geleistet werden. „Außer ein bisschen Pressearbeit ist da nichts passiert“, so Jan Schierhorn. „Und wir konnten vom ersten Jahr an kostendeckend arbeiten“. Vor kurzem wurde dennoch damit angefangen, auf potentielle Firmenkunden und Großabnehmer aktiv zuzugehen. Inzwischen wird beispielsweise auch die Firmenzentrale der TUI AG in Hannover mit den Säften aus Hamburg beliefert. Und scheinbar sind sie dort so beliebt, dass während der ersten Woche direkt nachbestellt werden musste. Auch die Säfte aus den 1.000 neuen Bäumen scheinen also ihre Abnehmer zu finden. Und das, obwohl sich Das Geld hängt an den Bäumen nicht auf Volumenmargen oder Rabatte einlässt. „Der Kunde muss für ein gutes Produkt auch einen angemessenen Preis zahlen, sonst funktioniert das nicht. Daher verhandeln wir auch nicht!“, so Schierhorn.

Jan Schierhorn geht davon aus, dass das Projekt in 18 Monaten rund doppelt so groß sein wird wie heute. D.h. aus den 9 Mitarbeitern werden bis dahin wahrscheinlich knapp 20. Wachstum um jeden Preis lehnt er aber entschieden ab. In der jetzigen und in der angepeilten Größe hält er es noch für machbar, auch als Blaupause für andere Initiativen zu dienen und den Austausch zu fördern. Wenn man zu groß sei, gehe das nicht mehr. Und Nachahmer für seine Idee sind ausdrücklich erwünscht!

Bei Saft ist noch nicht Schluss

Bei Äpfeln und Saft macht Das Geld hängt an den Bäumen aber noch lange nicht Schluss. Generell geht es darum, bestehende Wertschöpfungsketten neu zu denken. Seit einiger Zeit hat zum Beispiel ein ehemaliger Verkäufer der Hamburger Obdachlosenzeitung „Hinz & Kunzt”, der früher auf der Straße gelebt hat, in der Altonaer Halle eine kleine Werkstatt. Dort näht er – zusammen mit einem Geflüchteten aus Syrien – Taschen, Mützen und andere Accessoires aus alten Kaffeesäcken. Diese bekommt Das Geld hängt an den Bäumen von der Speicherstadt Kaffeerösterei, wo letztendlich auch die genähten Produkte wieder verkauft werden. Eine Win-Win-Win-Situation sozusagen. Ab Ende Oktober wird es noch eine weitere Kooperation geben. Von einem neuen SKY-Supermarkt im Nobelvorort Blankenese erhalten Schierhorn und sein Team zukünftig wöchentlich eine Palette Obst und Gemüse, das noch gut ist, aber eben nicht mehr im Supermarkt verkauft werden kann. Daraus werden dann in der eigens eingerichteten Produktionsküche Chutneys, Soßen und Suppen gekocht, in Gläser gefüllt, wieder in den Supermarkt geliefert und dort verkauft. Die Rezepte dafür wurden eigens mit befreundeten Köchen zusammen entwickelt. So entsteht ein ganz neuer Wertschöpfungskreislauf – und Ressourcen, die sonst auf dem Müll gelandet wären, werden nachhaltig genutzt.

Jeder sollte etwas Verantwortung übernehmen

Insgesamt lerne ich mit Jan Schierhorn einen Menschen kennen, der – in meinen Augen – ein sehr gesundes Verständnis des Wachstumsbegriffes hat. Oder um es in seinen eigenen Worten zum allgegenwärtigen Wachstumsmantra etwas drastischer auszudrücken: „Drauf geschissen!“. Kürzlich hat er sein Projekt vor der versammelten psychologischen Belegschaft des Universitätsklinikums Eppendorf vorgestellt. Auf die Frage aus dem Publikum, warum er nicht stärker wachse, wenn alles so gut läuft, entgegnete Schierhorn nur die Gegenfrage „Warum?“. Darauf wusste auch die Dame im Publikum keine stichhaltige Antwort.

„In meinem früheren Job, da wurden Hirn und Brieftasche angesprochen. Das was ich jetzt hier mache, ist für Bauch und Herz!“

Natürlich wird Das Geld hängt an den Bäumen nicht die Welt retten. Dessen ist sich Jan Schierhorn bewusst. Und das will er auch gar nicht. Aber er ist der festen Überzeugung, dass man sein direktes Umfeld aktiv sozial, nachhaltig und fair gestalten kann. „In meinem früheren Job, da wurden Hirn und Brieftasche angesprochen. Aber das ist nicht das Wahre, wenn man langfristig denkt. Das was ich jetzt hier mache, ist für Bauch und Herz! Und wenn jeder etwas Verantwortung diesbezüglich übernimmt und auch mal für Herz und Bauch arbeitet, dann ist auf jeden Fall mehr geholfen, als wenn sich ein einzelner um alle Probleme kümmern soll.“

Den Saft von Das Geld hängt an den Bäumen bekommt ihr in Hamburg entweder ab 2 Kisten frei Haus geliefert (Bestellung über die Website) oder auch im neuen SKY-Markt Blankenese (ab Ende Oktober). Außerdem gibt’s die Säfte in den Mutterland-Läden und in verschiedenen Cafés in Hamburg. Oder ihr schaut einfach mal selbst in der Harkortstraße in Altona vorbei. Besuch ist ausdrücklich erwünscht!

Das Geld hängt an den Bäumen gGmbH

Niedergeorgswerder Deich 196
21109 Hamburg

www.dasgeldhaengtandenbaeumen.de
https://www.facebook.com/DGhadB/

Direkt zur Saftbestellung:
http://www.dasgeldhaengtandenbaeumen.de/nachbars-garten/ich-moechte-saft-bestellen/

Außerhalb Hamburgs könnt ihr den Saft außerdem auch noch beim Feinkosthändler Solvino.de bestellen!

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